Gegen Mittag angekommen in einem kleinen Hotel in Kensington, für zwei Tage nun also in London…

Filigran gestaltete strahlend weisse und schlichtere Backstein-Fassaden der klassizistischen Art mit vier bis fünf Geschossen reihen sich hier in langen Blocks aneinander, steile Treppen führen vom Gehweg unter einen Portikus, hohe, geteilte Fenster nicht nur im höher liegenden Erdgeschoss. Mein Zimmer liegt ein Stockwerk tiefer, Gartenebene, steril renoviert mit modernen Möbeln und Parkettboden und Hinterhofausblick auf einen kleinen Rasen, drumherum alte Brandwände aus roten Ziegeln, auf die flach die Sonne fällt.

   Victoria & Albert

Den Nachmittag verbringe ich im Victoria & Albert Museum, insbesondere in der Abteilung Architektur der Arts-and-Crafts-Bewegung, vor Schubladen gefüllt mit fein kolorierten Architektur-Zeichnungen und den vielen Modellen jeden Genres, im Flügel des Mittelalters bei einer kompletten Londoner Hausfassade aus Holz und detailliert geschnitzten, riesigen Eingangstüren, bei Möbeln und alltäglichen Gebrauchsgegenständen wie Knöpfen, Taschen, Kleidung in der Abteilung Asien. Beim Verlassen des Gebäudes stoße ich auf einen smarten Herrn, Jason, leider in Marmor und aus der Renaissance um 1600.

Gleich in der Nähe liegt Harrods. Der Bau im Stil des Eklektizismus ist in diesen spätnachmittäglichen Winterstunden beleuchtet wie ein zu einem Fest geschmückter Palast. Und das ist dieses Kaufhaus ja wohl auch. Die in farbenfrohem Jugendstil gestalteten Food Halls im Erdgeschoß sind sowohl innenarchitektonisch als auch kulinarisch bestimmten Themen zugeordnet. Die überbordende Dekorationslust, die sich an Wänden und Decken zeigt, schlägt sich auch in der Darbietung der Waren nieder, kleine Brötchen werden wie Pralinen angeboten, Pralinen wie Schmuckstücke dekoriert. Hier unten herrscht geschäftige Enge. In den oberen Stockwerken dagegen kann ich unbehelligt durch die Räume und Säle wandern, in denen es alles zu kaufen gibt, was gut und teuer ist. Es ist still hier, kaum ein Dutzend Menschen begegnen mir. In dieser Preisklasse wird Muße zelebriert.

   Unterwegs bei Büroriesen

Am nächsten Tag dann bin ich im Zentrum…
Er beginnt ganz elegant beim Café im Sky Garden, mit gewaltigem Blick auf ganz London. Eigentlich muss man den Besuch drei Wochen vorher buchen, unter Angabe von Passnummer und Wohnort. Aber auf einer  interaktiven Webseite zu Londons Sehenswürdigkeiten hatte ich den Hinweis entdeckt, dass man auch ohne Anmeldung um 10 Uhr erscheinen kann, dann würde eine gewisse Anzahl Besucher vorab eingelassen. Ich bin pünktlich dort und werde vor all denen, die reserviert hatten, im Lift in den obersten Stock katapultiert.

Das Gebäude hat nicht nur seiner Form wegen -die Londoner haben dem mit einem Preis für das hässlichste Gebäude ausgezeichneten Hochhaus den Namen „Walkie-Talkie-Tower“ gegeben- Schlagzeilen gemacht. Die konkav gewölbte Süd-Fassade verursachte durch Bündelung von Sonnenstrahlen Schäden an Kunststoffteilen von in der Nähe geparkten Autos, sodass sie nachträglich mit Beschattungslamellen ausgerüstet werden musste (Bau im Spiegel in FAZ vom 5. September 2013, Seite 28, Quelle: Wikipedia). Ein gewaltiger Glaskasten bildet den Abschluss, der auf mehreren Ebenen wie ein Gewächshaus gestaltet ist. Incl. botanischer Beschriftungen.

Ein blondes Mädel in feuerrotem Mäntelchen kann auf der schmalen Außenterrasse gerade noch ein Foto mit wehendem Langhaar per selfie-stick in Richtung Westminster schießen, ehe der Wachmensch anrückt und sie höflich auffordert, das doch bitte zu unterlassen. Englische Erziehung, ausgesucht zuvorkommend; die Benutzung von Selfie-sticks ist auf der Terrasse verboten!

   London im Weitwinkel

Ich lasse mich drinnen für einen Kaffee auf einem stylischen, unbequemen Sofa nieder, draussen London bis zum Horizont. Und der ist hier schon ganz schön weit. Notting Hill in der Ferne hüllt sich zwar in einen feinen Dunstschleier, aber sonst liegt sie ganz prächtig da, die Schöne. Die alten und neuen Architekturhighlights drumherum aneinandergereiht oder scheinbar ineinander verwoben im Gedränge rechts und links des Flusses.

Anschliessend umrunde ich “The Gherkin” (die Gurke), eigentlich Swiss Re Tower, der Architekten Foster und Shuttleworth, ein beeindruckend schönes Beispiel, was Architektur als Ingenieurleistung mit CAD-Unterstützung hervorbringen kann. Eingefügt zwischen Gebäuden des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts, perfekt in Proportion und Gestaltung, kontrastreiche, gleichwohl harmonische, angemessene Antwort auf die Umgebung. Daneben der Leadenhall Tower, der “Käsehobel”. Eher abweisend und steril bleibt er eine Demonstration poesieloser technischer Architektur.

Leadenhall, the “cheese grater”.

Platzgestaltung durch Installationen, durchaus philosophisch…

The “gherkin” inmitten der 20er Jahre Bebauung

Drumherum Kunst.
Ai Wei Weis xxxFahrräder und Werke anderer Künstler, aber auch ganz praktische Kunst: steinerne Platzmöblierung aus Granit auf deren Sitzflächen sinnfällige Texte eingraviert sind. Vielleicht ist das ein besonders guter Weg, Poesie bzw. philosophische Gedanken zu verinnerlichen…. über die eigene Kehrseite, nicht intellektuell über den Kopf, sondern sein Gegenteil. Ich setze mich mal probehalber hin, eher um mich auszuruhen, trotz des kalten Steins mal die Beine auszustrecken. Aber der Text, der mich angesprochen hatte, turnt dann doch eher im Kopf herum….

Ai Weiwei “Bikes”

Das Fotografieren der Gurke wird argwöhnisch beobachtet von einem Bewacher, der mich darauf hinweist, dass ich wohl Aufnahmen des Gebäudes von außen machen dürfe, nicht jedoch versuchen solle, das Innere anzupeilen. Was sollte es da wohl zu spionieren geben? Die Damen am Empfang sitzen in großem Abstand von einander vor einer von hinten beleuchteten Wand, die sie selbst nur als Objekte, nicht als Personen erscheinen lässt. Ihre Funktion wird betont durch Empfangstresen und Computer, hinter denen sie praktisch verschwinden. Als Besucher hört man wahrscheinlich allenfalls ihre Stimmen – ein Blick in die Augen, ein Lächeln? Vielleicht eine Geste…
Der Wachmann vor der Tür, der mich unablässig aus den Augenwinkeln beobachtet, hat einen deutschen Schäferhund neben sich. Ein fühlendes Wesen, immerhin.

The “gherkin”

   Altes und Neues

Zwischen all den hohen modernen Gebäuden der letzten 10, 15 Jahre überdauern – noch immer- einzelne Gebäude aus den 1920ern und kleine Kirchen aus dem 15. Jhdt. Auch ein eingeklemmter, mittelalterlicher Turm, der derzeit als Versammlungsraum der Weight Watchers Gruppe Central London genutzt wird, die die mittlerweile betonierte Plattform drumherum liebevoll mit vereinzelten Topfpflanzen dekoriert. Trauriges Manifest eines eisernen Überlebenswillens inmitten neuzeitlicher merkantiler Hochleistungskonzepte, die für kulturelle Sentiments wenig Verwendung weiß.
Da falle ich von einem Jahrhundert in ein anderes, die Geschwindigkeit des Wechsels irritiert.

Ich flüchte in einen fast-food-laden der letzten Generation. “Prêt-a-Manger” verspricht organic coffee – natural food. Das, neben dem französischen Namen, suggeriert Qualität und Tradition. Das Lokal ist eher klein, wie soll das gehen…? Später stelle ich fest, es gibt wahrscheinlich hunderte davon in London. Ich sitze auf einem immerhin hölzernen Barhocker, an einem hölzernen Stehtischchen. Offenbar bin ich gerade rechtzeitig vor der allgemeinen Lunchpause erschienen. In kurzer Zeit bildet sich vor der (Holz-Glas) Theke eine lange, akkurate Schlange. Die Koffermänner in ihren adretten Anzügen warten geduldig, bis sie bei Bedienung 1 ihre Bestellung aufgeben können, um sich dann in Schlange no. 2 einzureihen, wo sie ihre sushis, scones, french fries oder baguettes in einer ökologisch korrekten Papiertüte in Empfang nehmen. Es gibt einige, die auch dabei noch einhändig die Zeitung lesen, ganz entspannt.

   Tanz im Bankenviertel

Durch das Fenster beobachte ich den Verkehr an der Kreuzung, viele Taxis, rote Busse, die meisten davon in attraktivem neuen Design, asymmetrische Fenster-Gestaltung im hinteren Teil, auffällige Linienbezeichnung. Die alten verschwinden also auch immer mehr. Wenigstens sind sie noch immer doppelstöckig.
Die Menschen, die über die Kreuzung driften, sind zu 98 % schwarz gekleidet, davon sind 75 % männlich, wir befinden uns im Geschäftszentrum Londons. Drei orangefarbene Sainsbury’s-Tüten tauchen plötzlich auf und wirken wie ein Signal; allerdings werden sie von (schwarz gekleideten) Frauen getragen. 15 Minuten später erscheint ein vereinzelter männlicher Mensch in rotem Anorak.
Surrealismus in Echtzeit.

Nach meinem genussvollen, wenn auch fast(-food) lunch lasse ich mich durchs Bankenviertel treiben. Hier scheint die schwarze, maximal mit kleinsten weißen Dekorationen versehene Kleidung eine Art Passierschein zu sein. Ich gerate in eine fußläufige Verbindung zwischen zwei Haupstraßen und befinde mich abrupt in einem Szenario wie aus einem satirischen Film à la M. Hulot. Hohe Glas- und Aluminium-Fassaden, glatter grauer Granit als Straßenbelag, schwarzweiße Menschen in ausgreifenden Schritten von links nach rechts und umgekehrt, von schräg hinten nach vorn, seitwärts vorbei und am Rand verschwindend; immer die gleiche angemessene Geschwindigkeit, wie von einer Uhr vorgegeben. Und – Stille. Kein Hupen, kein Reifengequietsche. Auch keine Telefongeräusche. Die vereinzelten Statisten, die dem beständigen Bewegungsfluß die Akzente geben, stehen mit dem kleinen Kästchen in der Hand still auf einem Fleck und lauschen in Kopfhörer, die sie mit der Welt des Lärm draußen verbinden. Der stille Tanz um sie herum geht weiter…

   Leadenhall Market

Die Bewegung schwemmt mich in ein altertümliches Straßengeviert. Roter und Goldener Stuck, kannelierte Säulen unter blaugoldener Kuppel, kleingefaßte Fensterscheiben und Messinggriffe illustrieren traditionellen Luxus. Ich habe gerade noch die eleganten Auslagen bewundert, z. B. einen edlen Montblanc-Füller auf schwarzsamtenem Polster, als mir an der Ecke eine Warteschlange auffällt. Oh diese Engländer! Für alles stehen sie brav in einer Reihe, am Bus, vor der Sushi-Theke und nun hier – vor einem Schuhputzerstand! Zwei junge Frauen hocken hinter den edlen, aufgebockten Fußstützen, um sich herum ordentlich aufgereiht vielfarbige Schuhcrèmes und alle Sorten kleiner und großer Bürsten und Stoffstreifen. Und während sie sich mit Verve den alten und neuen Fußbekleidungen widmen, vertreibt eine lockere Unterhaltung die Zeit. Mein Nachbar lässt ältere und offensichtlich weitgetragene Kurzstiefel bearbeiten, das braucht Geduld, derweil er von seinen merkwürdigen Erlebnissen als vorübergehender Neubürger in Deutschland erzählt. Ach, er war in Berlin, na, das ist vielleicht ja gar nicht wirklich “Deutschland”…

Leadenhall Market Schuhputzer

Foto  David ILIFF. License: CC-BY-SA 3.0 Foto David ILIFF. License: CC-BY-SA 3.0 Wikipedia.org

Meine Camper sind relativ neu, das Säubern, Crèmen, Bürsten und Polieren ist bald erledigt. 5 £ entlohnen den hervorragenden Job und ich bin wieder bereit für neue Entdeckungen.

Anmerkung:

Info London  https://www.visitlondon.com/#I3CmP6pbYwrrRVvA.97

Zu Ai Weiwei siehe auch  https://de.wikipedia.org/wiki/Ai_Weiwei

Zu “The Gherkin” https://de.wikipedia.org/wiki/30_St_Mary_Axe

Leadenhall Market https://de.wikipedia.org/wiki/Leadenhall_Market

Zu Teil 1: https://relaunch.ahabaustift.com/reist-na

Alle Fotos sofern nicht anders angegeben: ©Angelika Hermichen