… Tag Zwei meiner Tage in London zu Architektur und Kunst.
Aus dem leisen Brausen der Einkaufsstraße gelange ich zurück in den normalen Straßenbetrieb. Und der ist in London derzeit gekennzeichnet von Baustellen. Unter- und überirdisch zeigt die Stadt an jeder Ecke ihre Wunden. Gigantische Komplexe entstehen aus Beton und Stahl. In den Straßenschluchten werden die Menschenströme endlos in provisorisch überdachten Fußwegen geleitet, deren holzverschalte Wände unübersehbar plakativ den verantwortungsbewussten Umgang der jeweiligen Bauunternehmen mit Technik und Ressourcen dokumentieren. “Sorry for the inconvenience!”
In einer engen Straße machen Bauarbeiter Pause von ihrer Arbeit auf der gegenüberliegenden Großbaustelle. Sie schieben sich vor einem pub ein ale unter den stabilen Plastikhut und beißen in dicke Sandwiches. Ich würde wohl auch gern irgendwo sitzen, in der Stille…
London ganz klassisch
Im Umwenden entdecke ich, daß ich vor einer kleinen Kirche stehe, einem Gebäude aus dem 17. Jhdt., wiederaufgebaut nach dem großen Brand von 1666, wie mir der zuständige Diakon erklärt. Jeden Montag Mittag gibt es hier ein Orgelkonzert; wie schade, es ist Dienstag. Aber er empfiehlt mir, vor allem auch wegen des Bezuges zum Architekten Christopher Wren, St. Mary Abchurch und St. Lawrence Jewry. Dort an der Guildhall wollte ich doch auch noch vorbeistreifen, auch ganz ohne Konzert…
Leicht verspätet betrete ich St. Lawrence Jewry, den fast quadratischen Raum mit flacher, kassetierter Decke in weiss-goldenem Stuck während Bachs Fuge in g moll erklingt. Allenfalls erkenne ich Bach, später folgen Werke von Britten, Messiaen und Max Reger, heute vorgetragen von zwei Harvard-Studenten, zu Besuch in London. Das Konzert ist gut besucht, in der Regel ältere Menschen aber auch einige junge Paare und Familien mit halbwüchsigen Kindern, in der Pause begrüßt man sich, alte Bekannte offenbar, Gemeindemitglieder.
An der Themse entlang
Durch die city zurück und über die Themse an “The Shard” vorbei. Der ist noch ein gutes Stück höher als der Sky Garden, aber der Besuch kann bis zum nächsten Mal warten. Statt dessen lockt das feeling, bei Shakespeares wenn auch rekonstruiertem Theater zu stehen, seinen -imaginären- Worten zu lauschen und mir das Gedränge auf den Rängen vorzustellen, ganz “Shakespeare in Love“-gemäß. Die Promenade an der Themse ist jedoch neuzeitig bespielbar als gefälliger Aussenraum am Flußufer. Auf kulturelle Nutzung hin geplante Städtebauliche Anlage? Wenn es Sommer wäre…
Es geht nun an der Themse entlang und unter den Gleisen der Canon Street hinweg durch feuchte Backsteingassen, die mittlerweile auch schon von coffeeshops der letzten Generation erobert werden. “You make too many uncaffeinated decisions”, behauptet handschriftlich eine Werbetafel. Immerhin geben sie sich einen alternativen Anstrich, bedienen nicht so sehr die posh-and-beauty-Fraktion.
Neue und alte Bekannte in The Tate Modern
Kurz um die Ecke und dann –
dann also stehe ich vor The Tate Modern, einem der bekanntesten Museen moderner Kunst.
Auf dem betonierten Vorfeld des ehemaligen Kraftwerks ist der Eindruck des hohen Schlotes überwältigend. Ich bilde plötzlich eine Stromschnelle in der Bewegung der Besucher, ganze Schulklassen streben auf den Eingang zu. Später stellt sich allerdings heraus, es kommen zwar mehr als dreimal so viele Besucher wie ursprünglich veranschlagt, aber die Räume sind nicht überfüllt. Zur Zeit ist eine pyramidenartige Erweiterung als Ziegelkonstruktion im Bau, die Eröffnung soll noch im Sommer stattfinden. *
Der Eingang ungewohnt unspektakulär. Auch innen, es gibt keinen Empfang wie üblich. Eine schlichte Treppe, abgewetztes, geschwärztes Holz, schwarze Brüstung, die Griffleiste vertieft. Auch das nicht spektakulär. Und doch, die indirekte Beleuchtung, die fast grobe Dimensionierung entsprechen auf eindrucksvolle Weise dem Ort. Ein Blick in den langen Turbinenraum, der gerade von einer rampenartigen Installation eingenommen wird; hölzerne, mit Erde gefüllte Dreiecksbeete, in denen mühsam magere Pflänzchen um’s Überleben kämpfen.
Eindrucksvoller Innenraum
Herzog und DeMeuron als Architekten haben sich bei der Neugestaltung zurückgehalten. Die alten schmalen, hohen Fenster bestimmen die Halle, die an einem Ende noch immer einen Kran beherbergt. Fast wäre man geneigt, sich diesen gewaltigen Raum als völlig leeres Volumen zu wünschen. Zumindest hin und wieder. Später sehe ich in einem Bericht über die Eröffnung eine Installation von Ai WeiWei in der Turbinenhalle. Millionen von Sonnenblumensamen aus Porzellan, von Hand bemalt, in denen die Besucher herumspazieren und sich wälzen durften…
In den oberen Stockwerken ein Auszug der Sammlungen. Thematisch geordnet. Da finde ich alte Bekannte wie Picasso, Gerhard Richter (z.B. eines der Bilder aus dem Zyklus “John Cage”), Marisa Merz und Mark Rothko. Nam Yun Paik, Abramovich. Auch Rebecca Horn mit Arbeiten zu ihren performances mit Federn (1973). “Kakadu-Maske”, eine poetische Form des Ausdrucks von Beziehung zwischen Menschen in Zärtlichkeit und Agression.
Und ich schließe interessante neue Freundschaften, durch eine Installation mit Gustav Metzger unter anderem; polarisierende Flüssigkristalle, computerkontrolliert. Eine Skulptur in Eisen macht mich bekannt mit David Smith.
Millenium Bridge
Anschliessend zur Milleniumsbrücke -diesem schönen Konstrukt zur Befriedigung menschlicher Sucht nach Überwindung von natürlichen Hindernissen, wie es die Themse für Fussgänger darstellt, von der aus sich die Tate und das Flußufer, im dämmrigen Licht eines Winternachmittages betrachtet, einen geheimnisvollen Mantel umlegen. Dann bleibt nur noch der Weg um St. Pauls Cathedral herum, durch unerwartet altertümliche Gassen mäandernd zur U-Bahn-Station und zurück nach Kensington.
Victoria Street
Am nächsten Morgen lasse ich meinen Koffer im Depot in Victoria Station und mich doch noch hinreißen zu einem Gang durch Westminster. Die Abbey kann ich leider nicht von innen sehen; die Besucher werden genauestens gefiltert, es findet gerade eine Messe statt. Auch der Besuch von “The Eye” wird aus meinem Programm gestrichen, Scharen von Touristen strömen gedrängt über Westminster Bridge, die -richtig- gerade eine Baustelle ist. Ich stehe eine Weile auf der Brücke und betrachte das Geschiebe und Gewoge auf das Riesenrad zu…, wann ist eigentlich mal Nebensaison in London? Auch auf dem Rückweg Richtung Victoria werde ich noch gebremst in meinem langsam-genussvollen Schlendern, The Houses of Parliament wird von einer Reihe Limousinen der Luxusklasse mit verdunkelten Fenstern angesteuert, Bobbies mit Trillerpfeife und weißen Handschuhen halten das gemeine Volk in respektvollem Abstand.
Das letzte Bonbon dieser Reise entdecke ich dann rein zufällig in der Victoria Street, ein Restaurant von Jamie Olivier, ehe ich mich per U-Bahn, die in weiten Teilen außerhalb der Innenstadt oberirdisch geführt ist und daher einen kleinen, segmentartigen Einblick verschafft, wie es in Greater London aussieht, zum Flughafen transportieren lasse.
Es steht noch vieles auf meiner Liste, für das in diesen zwei Tagen keine Zeit blieb. Das nächste Mal soll es dann kein so spontaner Mini-Trip im Anschluss an einen privaten Besuch werden, sondern ein gut geplanter, längerer Aufenthalt. Allerdings, für einen kurzen Eindruck von der Veränderung Londons seit meinem ersten Besuch vor mehr als dreißig Jahren hat es gereicht. Und reichlich Vorfreude geschürt.
* timelaps footage über die Bauphase: https://www.dezeen.com/2016/06/21/tate-modern-releases-movie-showing-construction-of-herzog-de-meurons-extension/
Zu Christopher Wren: https://de.m.wikipedia.org/Wiki/Christopher_Wren
Zu Ai Weiwei Ausstellung Tate Modern: https://de.wikipedia.org/wiki/Sunflower_Seeds
Info London:
http://www.visitlondon.com/de?ref=header#IqlzofuDjZjJSokb.97
alle Fotos: ©Angelika Hermichen
Zu Teil 1: https://relaunch.ahabaustift.com/reist-nach-london-1/